Kirche Neuwegersleben
Auch wenn die Anfang des 20. Jahrhunderts gebaute evangelische Kirche Neuwegersleben keinem Heiligen geweiht ist, hat sie doch einige Besonderheiten zu bieten. Unter anderem drei sehr bemerkenswerte farbige Fenster mit Bildnissen von Jesus, Moses und Petrus.
Es war 3 ½ Uhr nachmittags, also 15.30 Uhr, als am 26. April anno 1914 die Neuwegersleber Kirchengemeinde das Luther-Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ angestimmt hat. Und das sicherlich sehr lautstark sowie mit mächtig großer Freude. War es doch der Auftakt einer ganz besonderen Feier, mit der ein neues evangelisches Gotteshaus eingeweiht wurde. Jene Kirche also, die am Grandsteig steht und bis heute nicht zuletzt wegen ihres recht hohen Turms ein Wahrzeichen des Ortes ist.
Wobei der besagte Feier-Auftakt doch einige Meter entfernt stattgefunden hat. Nämlich in der Vorgängerkirche. Die zu diesem Zeitpunkt zwar schon sechs Jahre baupolizeilich gesperrt war, aber für diesen besonderen Anlass noch einmal zur kurzzeitigen Nutzung freigegeben wurde. So dass dort an jenem 1914er April-Nachmittag noch ein zweites Lied gesungen sowie eine Abschiedsandacht gehalten worden ist, bevor sich die Feiergemeinde zur neuen Kirche in Bewegung gesetzt hat. Um dort unter anderem etliche weitere Lieder zu singen, einem Kinderchor sowie Predigten zuzuhören und schließlich Zeuge zu sein, wie Generalsuperintendent Ludwig August Hermann Stolte die Kirche weiht.
Das alles geht aus Unterlagen hervor, die der Neuwegersleber Hobby-Chronist Albert Busse beim Studium diverser historischer Dokumente zusammengestellt hat. Zu diesen Unterlagen gehört auch nicht nur das Programm der Einweihungsfeier der neuen Kirche, sondern zudem das Programm der Grundsteinlegung, die zwei Jahre zuvor, ganz genau am 18. Mai 1912 erfolgte. Und auch dabei hat es schon einen feierlichen Umzug von der alten Kirche zum Bauplatz gegeben. Wo unter anderem eine Kupferschatulle mit Münzen, einer Tageszeitung und anderen Dingen ins Fundament eingelassen und der feierliche Akt mit dem Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ beendet worden ist. Mit jenem Lied also, mit dem zwei Jahre später die Einweihungsfeier angefangen hat.
Die Einweihungsfeier einer Kirche, die zwar weder seinerzeit noch irgendwann später einem Apostel, einem Märtyrer oder einem anderen Heiligen geweiht wurde und deshalb halt die „evangelische Kirche Neuwegersleben“ ist, die aber ungeachtet dessen etliche andere Besonderheiten zu bieten hat. Beispielsweise drei ganz bemerkeswerte bunte Fenster, die in der Halberstädter Glaswerkstatt Ferdinand Müller mit Darstellungen von Christus, Moses und Petrus bemalt worden sind und den Altarraum schmücken. Genauso bemerkenswert ist die auch heute noch funktionstüchtige Orgel, die einst Ernst Röver aus Hausneindorf gebaut hat.
Zur Einrichtung der Kirche gehören zudem eine West- und eine Nordempore sowie eine kleine Loge, auf der seinerzeit in den Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen der Patron der Kirche, also der Kirchenherr, gesessen hat. Was im Fall von Neuwegersleben vor allem der jeweilige Besitzer der Domäne oder auch der Amtsrat war.
Zudem ist die Kirche mit dem inzwischen mehr als 100 Jahre alten Original-Gestühl, mit einer Kanzel, einem kleinen Altar und einem Taufstein sowie unterhalb der Orgel mit einem weiteren Jesus-Bild ausgestattet und hat einige weitere sehenswerte, wenn auch mitunter etwas beschädigte Fenster. Außerdem gibt es eine Sakristei, in der laut Kirchengemeindemitglied Gudrun Welborn bis zum Beginn der Corona-Pandemie auch in kleinerer Runde Gottesdienste gefeiert worden sind. Zu denen die Neuwegersleber evangelischen Christen ansonsten nach Hamersleben fahren.
Während Gudrun Welborn auch unabhängig davon, dass es derzeit keine Gottesdienste oder andere Veranstaltungen in der Neuwegersleber Kirche gibt, einen Blick in das Gotteshaus ermöglicht. Und wer sich der Neuwegersleber Kirche aus dem Osten nähert, der wird besonders freundlich empfangen. Gleicht doch die westliche Fassade mit etwas Fantasie einem lustigen Gesicht. Zwei runde Fenster sind die Augen, der frühere Haupteingang ist der Mund und zwei längliche Fenster sind so etwas wie Grübchen.
Während die nördliche Kirchenseite, auf der sich unter anderem auch der heute benutzte Eingang befindet, vor allem vom etwa 20 Meter hohen Turm bestimmt wird. Der zur Einweihung mit drei, vor allem vom Amtsrat Küken und vom Frauenverein gestifteten Glocken ausgestattet war. Von denen jedoch bereits drei Jahre später die größte und die kleinste konfisziert worden sind und aus ihnen Kriegsmaterial wurde. Zwar haben der Domänenpächter Walter Bethge und Anna Küken als Schwester des früheren Amtsrates Anfang der 30er Jahre das Geld für zwei neue Glocken gestiftet, doch war auch das neue Glocken-Trio nur kurze Zeit komplett. Denn im zweiten Weltkrieg sind abermals zwei Glocken beschlagnahmt und zu Kanonenkugeln oder anderem Kriegsgerät geworden. Diesmal ist gar nur die kleinste Glocke im Turm geblieben. Wo sie erst Anfang der 70er Jahre eine zweite Glocke an ihre Seite bekommen und bis heute hat.
Die 1930 eingebaute Turmuhr hat indessen den zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden und funktioniert auch heute noch. Wohingegen der Verbleib einer 1933 vom Oberbahnhofvorsteher Rudi Hillebrand gestifteten Kirchenfahne unbekannt ist.
Bekannt ist wiederum, wie sich aus den Unterlagen von Albert Busse erfahren lässt, dass die heutige Neuwegersleber evangelische Kirche zwei Vorgänger hatte. Die erste davon ist bereits im Jahr 1140, also nur 28 Jahre nach der urkundlichen Ersterwähnung des Ortes, der damals noch Wegersleben hieß, sowie fast 400 Jahre vor der Reformation auf dem heutigen Fürstenberg (damals Ziegenberg) gebaut worden. Was im Übrigen den Nachbarort Wulferstedt laut Chronik des dortigen Pfarrers Stephan Kunze ermutigt hatte, nur acht Jahre später beim Halbertstädter Bischof Reinhard ebenfalls um die Erlaubnis zum Bau einer Kirche zu bitten. Mit Erfolg.
Historisch belegt ist auch, dass diese erste Wegersleber Kirche bis 1521, also bis vier Jahre nach Beginn der Reformation genutzt wurde, ehe sie verfallen beziehungsweise zerstört worden ist. Wie schon zu dieser Zeit der gesamte Ort sehr gelitten hatte und dann im Laufe des 30-jährigen Krieges so richtig zerstört wurde und alles zu einer wüsten Gegend geworden ist. Um dann Mitte des 18. Jahrhunderts von Prälat Heinrich Nolte wiederbelegt zu werden, der unter anderem einen Gutshof nebst Kolonisterhäuser bauen ließ, damit wieder für Leben und Wirtschaft sorgte und aus Wegersleben das Dorf Neuwegersleben wurde.
1861 hat das neue Wegersleben dann auch wieder eine eigene und damit die erste evangelische Kirche bekommen. Auf Initiative des Domänenpächters und des Dorflehrers, nachdem schon 20 Jahre zuvor eine erste evangelische Schule eröffnet worden ist.
Auch diesmal hatte die Domäne eine entscheidende Rolle gespielt. Sollte doch eigentlich auf deren Gelände eine Zuckerfabrik oder gegebenenfalls auch eine Brauerei gebaut werden. Doch sind diese Pläne auf halbem Wege steckengeblieben und ist schließlich aus einem dafür bereits fast fertiggestellten Gebäude eine Kirche geworden. Die aber nach knapp 50 Jahren unter keinem glücklichen Stern mehr stand. Ist doch am 22. April 1908 ein Dachdecker bei Reparaturarbeiten an verrotteten Balken und Stützpfeilern durch das Kirchendach gefallen und hat sich schwer verletzt. Woraufhin das Kirchengebäude gesperrt worden und einige Jahre später gar abgebrannt ist. Da war aber die heutige Kirche längst fertig.
Die heute sicherlich auch den einen oder anderen Handwerker gebrauchen könnte, aber in ihrer Grundsubstanz nicht gefährdet scheint, nachdem im Jahr 2013 das Dach des Kirchturms vor allem mit Mitteln aus einem europäischen Förderprogramms völlig erneuert worden ist. Wie auch ein Tischler die Tür des früheren Haupteingangs vor einiger Zeit restauriert und damit für einen erforderlichen Notausgang gesorgt hat.